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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Goslar wird Kulisse für Doku-Drama



Toni Pepperoni
04.09.2016, 09:20
Goslar. Erneut wird Goslar die Kulisse für eine Filmproduktion bieten: Für einen Dokumentarfilm über Erich Kästner sollen in Goslar wichtige Szenen aus dem Leben des Schriftstellers vor den historischen Goslarer Gebäudeensembles nachgespielt werden. Ein Filmteam von 20 Mitarbeitern, zahlreichen Schauspielern und Komparsen wird schon ab Montag in Goslar und Umgebung mit den szenischen Dreharbeiten für „Erich Kästner – Das andere Ich“ beginnen.
Die dokumentarischen Teile der Dreharbeiten und Interviews wurden bereits unter Mitwirkung von Oscarpreisträgerin Caroline Link, Tote Hosen Frontmann „Campino“ und zahlreichen Experten abgeschlossen. In Goslar werden nun wichtige Szenen aus Kästners Leben nachgespielt. Die Hauptrolle Erich Kästner übernimmt Matthias Bundschuh, seine Lebensgefährtin Luiselotte Enderle wird von Lisa Wagner gespielt. Der Film wird im Weihnachtsprogramm 2016 bei ARTE seine TV-Erstausstrahlung haben.

„So selbstverständlich es für mich immer war, Schriftsteller zu werden, so fernab von die- sem Wunsch und Plan und Ziel lag mir der Gedanke an Kinderbücher.“ (Erich Kästner)

Auch wir haben als Kinder „Das fliegende Klassenzimmer“, „Emil und die Detektive“ und „Das doppelte Lottchen“ gelesen, geradezu verschlungen – unter der Bettdecke, im Lichtkegel einer Taschenlampe. Heute fragen wir, wer ist Erich Kästner, der Mann, dessen Gesicht uns im hinteren Buchcover immer angelächelt hat? Welcher Mensch steckt hinter der heiteren, witzigen und bisweilen aggressiven Fassade? Was hat es mit „seinem Doppelgänger“ und dem „anderen Erich“ auf sich, von dem er immer wieder spricht und schreibt? Auf den ersten Blick erscheint Erich Kästner ein griffiger und durchschaubaren Mensch zu sein: Ein pfiffiger Skeptiker, der bei allem, was er sagt und schreibt, von einem Augenzwinkern begleitet ist. Ein lyrischer Pulsmesser der Zeit, der nie aufhören will zu glauben, „dass die Menschen besser werden könnten, wenn man sie oft genug bittet, beleidigt und auslacht.“ Und ein begnadeter Kinderbuchautor, der wie kein anderer die Großstadtsprache und den Lebensraum von Kindern belauscht und fixiert. Mit seiner klaren Sprache und seinem nüchternem Humor entführt er Kindern und Jugendliche in den 1920er Jahren in die Welt der Literatur – genau wie heute.
Der Film „Erich Kästner – Das andere Ich“ (AT) ergründet die Welt eines Mannes, der jahrzehntelang am Abgrund lebt und schreibt. Der Blick überrascht: Bereits als Kind hält er seine depressive Mutter vom Selbstmord ab. Ein Ausbilder schindet den Rekruten Kästner während des 1. Weltkriegs so sehr, dass er einen Herzschaden bekommt. Im Berlin der 1920er Jahren durchlebt und erlebt der Autor Kästner ein entfesseltes Jahrzehnt mit Ausschweifungen, Straßenkämpfen und Wirtschaftsmiseren. Als die Nazis seine Bücher und Gedichte verbrennen, steht er unerkannt auf dem Berliner Opernplatz und schaut zu, die geballte Faust in der Manteltasche. Doch Erich Kästner bleibt in Hitlers neuem Deutschland, will Zeitzeuge werden, um später darüber zu schreiben. Es wird ein Tanz auf dem Vulkan. Während er im Dritten Reich unter Pseudonym die Unterhaltungsindustrie bedient und zeitweise mit den Teufeln am selben Tisch sitzt, schreibt er Skizzen für die Schublade. Es sind erschrockene Selbstbefragungen eines Mannes, der spürt, dass er dabei ist, seine Integrität an die Machthaber zu verlieren. „Er war tot und lebte weiter“, so Kästner über seinen Doppelgänger in seinem „Blauen Buch“. Er spürt schon bald, dass er nicht mit einer blütenweißen Weste aus dem Schlamm der Geschichte auferstehen wird. Das ist der Schatten, mit dem er überleben muss.
Im Nachkriegsdeutschland schreibt Erich Kästner keinen großen Zeitroman über den Nationalsozialismus. Er schafft es nicht – die Bilder aus den KZs machen ihn ohnmächtig und zeitweise sprachlos. Stattdessen sammelt er Material und Zeitungsausschnitte zum Thema „Doppelgänger“. Das Wissen, sich im Dritten Reich verbogen zu haben, lässt ihn geradezu versteinern. Er greift zum Alkohol und verstrickt sich in Frauengeschichten.
In den 1960er Jahren scheint Kästner klarzuwerden, dass er zwar im Nazideutschland geblieben ist, doch nichts geschrieben hat, dessen er sich zu schämen braucht. Vom Alkohol kommt er nicht los, er findet aber wieder Worte. Mit Reden gegen die Wiederbewaffnung warnt er die Menschen in der Bundesrepublik vor den Verführungen eines totalitären Regimes. Die Menschen hören ihm zu, Junge und Alte. Instinktiv erkennen seine Zuhörer, dass dieser lächelnde Mann mit dem Augenzwinkern mehrmals in seinem Leben in den Abgrund geschaut hat. Seine Leser spüren es bis heute das Doppelgründige und die historischen Verwerfungen in seiner Biographie unter der griffigen Oberfläche. All dies macht ihn zu einem der interessantesten Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts, dessen Werk bis heute die Menschen fesselt.

Quelle:regionalheute.de


Gruß Toni