GOSLAR. Wenn Kurt Höhler das Karstadt-Kaufhaus in Goslar betritt, dann hat er keine Eile. Er geht langsam, stützt sich auf seinen Stock, guckt sich um, zwinkert nach links, winkt nach rechts und wirkt ein wenig wie ein König in seinem Schloss. Wenn Höhler dann an der Backwarentheke angelangt ist, richtet er sich auf und fragt die beiden Mitarbeiter: "Wo ist mein Stuhl?" Es ist eine Scherzfrage, denn Höhler weiß seit Jahrzehnten, dass auf ihn im Karstadt in Goslar kein eigener Stuhl wartet. Doch das Herumalbern mit den Mitarbeitern gehört für ihn zum täglichen Besuch bei Karstadt, so wie das Pralinen kaufen. Für den 77-jährigen Rentner ist das Kaufhaus wie ein zweites Zuhause. Hier kennen ihn die Mitarbeiter mit Namen, hier wird er gegrüßt und findet fast alles, was er braucht. Ohne Karstadt, sagt Höhler, würde ihm ein Teil seines Lebens verloren gehen. Allein die Vorstellung, das Kaufhaus könnte im Zuge des Insolvenzverfahrens des Mutterkonzerns Arcandor geschlossen werden, verwandelt den scherzhaften Rentner in einen gnadenlosen Rächer. "Wenn sie den Laden hier dicht machen, dann schlage ich alles kaputt", droht er und klopft mit seinem Gehstock zornig auf den Boden. "Schweinerei ist das", sagt er noch. Nach Scherzen ist ihm dann nicht mehr zumute. Wohl eher zum Heulen. Kurt Höhler ist mit seinen Gefühlen nicht alleine. Die Mehrheit der Menschen in Goslar blickt besorgt der Zukunft ihres Kaufhauses entgegen. Dass es Karstadt irgendwann nicht mehr geben könnte, ist für viele schier nicht vorstellbar. Wie Kurt Höhler hoffen sie darauf, dass alles doch noch gut wird. Sie glauben fest daran, dass Goslar nicht zu den Filialen gehört, die möglicherweise geschlossen werden. Schließlich gibt es nur dieses eine Kaufhaus in Goslar, und das dürfe doch nicht verschwinden.
Seit achtzig Jahren kaufen die Menschen in Goslar bei Karstadt. [
Anm.: Eröffnung 1929 als "Karstadt"].Viele von ihnen sind mit dem Kaufhaus aufgewachsen.
Sie erinnern sich noch an die Zeit, als hier ein einarmiger Kriegsversehrter den Fahrstuhl bediente und in jeder Etage die unterschiedlichen Warensortimente und Abteilungen ausrief. Kundinnen, die heute Rentnerinnen sind, kamen in den Fünfzigerjahren mit ihren Müttern hierher, als die noch kleine Hüte mit Federn und Handschuhe trugen und einkaufen noch nicht shoppen hieß. Sie alle sind mit Karstadt aufgewachsen, haben ihre Schulsachen hier gekauft und später ihre Aussteuer, dann die Strampelanzüge und Spielsachen für die eigenen Kinder und die guten Kleider für die größeren Feiern des Lebens. Heute haben sie Karstadt-Goldkarten, sammeln Rabatt- und Gutscheine und kaufen festes Schuhwerk, in das sie Einlagen legen können, damit sie auch im Alter noch sicher über das Kopfsteinpflaster von Goslar laufen können. Mütter tragen heute keine Hüte mehr, und junge Frauen verzichten häufiger auf die Aussteuer. Doch zu Karstadt geht man hier immer noch. Mütter und Töchter besuchen die Wäsche-Abteilung im ersten Stock, Liebespaare treffen sich im Restaurant-Café im zweiten Stock. Senioren sind überall sonst zu finden. Auch wenn junge Leute lieber in einer Großstadt wie Braunschweig bei H&M kaufen oder bei Tommy Hilfiger, sie kommen auch zu Karstadt. Eine Neunzehnjährige kauft Kosmetik und Parfüm, ein Gleichaltriger sucht vor den Sommerferien nach einer Taucherbrille und CDs. Beide sagen, sie würden das Kaufhaus in Goslar vermissen, wenn es plötzlich nicht mehr da wäre. Das Kaufhaus ist das Herz der Stadt. "Wenn Karstadt dicht macht, gehen in Goslar die Lichter aus", sagt Stammkunde Kurt Höhler. Ein Satz, den man in diesen Tagen fast überall in der Stadt hört. Er ist hier zu einem Mantra geworden. Wer das Karstadt-Gebäude zum ersten Mal sieht, mag sich ein wenig über die Liebe Goslars zu seinem Kaufhaus wundern. Die ehemalige Kaiserstadt ist stolz auf ihre Geschichte. Dank ihrer gut erhaltenen mittelalterlichen Altstadt wurde Goslar als Unesco-Weltkulturerbe deklariert und zieht jährlich Tausende Touristen an. Zwischen den filigranen Fachwerkhäusern wirkt der klobige Karstadt-Klotz aus den Siebzigerjahren wie ein Fremdkörper. Einen ganzen Block lang, umrahmt von vier Straßen, erstreckt sich das Haus durch die Fußgängerzone in der Innenstadt. Die Fassade mit ihren bräunlichen Steinplatten und den schwarz-eisernen Fensterrahmen erinnert an eine Zeit, die in Westdeutschland eine Mischung aus Mief, Gewalt und Irrsinn war. Die Rote Armee Fraktion terrorisierte die Republik, während IIlja Richter "Disco" moderierte und Jürgen Drews sein "Bett im Kornfeld" besang. Großgemusterte Tapeten zierten Schlafzimmerwände, man trug Acryl-Kostüme und knallenge Schlaghosen. Die Bee Gees stürmten mit ihrem Song "Saturday Night Fever" die Hitparaden. Damals hatten die wenigsten Gewissensbisse, wenn das Moderne das Historische verdrängte. Auch nicht in einer Kleinstadt wie Goslar. Bis heute stören sich die meisten Bürger nicht am Äußeren ihres Karstadt. Über die Jahre hinweg hat sich in ihren Augen das Haus harmonisch ins Stadtbild eingefügt. Vielleicht ist es auch nur Gewohnheit. Vielleicht konzentrieren sich die Passanten auch mehr auf die Schaufenster und die Angebote als auf die Architektur. Heute tragen Puppen lachsfarbene Leinenkleider, Röcke und Poloshirts aus der neuen Frühjahrs- und Sommerkollektion. Sie werben mit aufgeblasenen Prozentzeichen für Ermäßigungen und wecken Sehnsüchte nach Urlaub, Reisen und Erholung. Kurt Höhler braucht keine Erholung, weder von Goslar noch von Karstadt. Was er braucht, ist sein täglicher Rundgang. "Unterhosen, Hosen, Hemden" - fast alles, was er trägt, stammt aus dem Kaufhaus. Bei seiner Karstadt-Runde besucht er täglich die Süßwarenabteilung, manchmal auch die Parfümerie, um einen Duft für sein "Schätzchen" zu kaufen. Manchmal, an besonderen Tagen, nimmt er sein "Schätzchen" sogar mit zu Karstadt. Wenn ihn etwas bei Karstadt stört, dann ist Höhler nicht zu schüchtern, sich bei der Geschäftsführung zu beschweren. Das war damals so, als das Management die Handwerkerabteilung abgeschafft hat und dann nochmal, als die Lebensmittelanteilung geschlossen wurde. In beiden Fällen hat Höhlers Protest nichts gebracht. Doch er hatte trotzdem das Gefühl, die Tür der Chefetage stehe ihm offen. Wenn Kurt Höhler heute seinen Rundgang absolviert, trifft er fast immer andere Rentner, die auch täglich hierher kommen. Man grüßt sich, bespricht sich und geht dann wieder seiner Wege. In den vergangen Tagen aber haben die Stammkunden Unterschriften gesammelt, damit ihr Karstadt erhalten bleibt. Friedrich Metge arbeitet seit Jahren in Blickweite von Karstadt. Der 58-Jährige ist Redakteur der Goslaer Zeitung und berichtet täglich über die Entwicklung der Stadt. Er hat miterlebt, wie Karstadt umgebaut wurde und wie DDR-Bürger am 13. November 1989 das Kaufhaus stürmten und hier ihre einhundert D-Mark Begrüßungsgeld ausgaben. Goslar lag nur zwanzig Kilometer von der Zonengrenze entfernt. Damals hat der Lokalreporter gehofft, dass die Stadt ihr "angestammtes Hinterland" und damit neue Kunden bekommen würde. Doch heute schreibt er häufiger über Rückschläge. Zuerst zog der Bundesgrenzschutz und mit ihm kaufkräftige Kundschaft ab. In diesem Jahr soll auch noch das große Luftwaffenausbildungsregiment verlegt werden. Außerdem geht das 150 Jahre alte Goslarer Traditions-Kaufhaus Hottenrott gerade Konkurs. Nach zwei Wochen Räumungsausverkauf wird es für immer schließen. Wenn Karstadt folgen würde, wäre dies ein herber Schlag für Goslar. Viele Laden- oder Restaurant-Besitzer, die in der Nähe des Karstadt ihre Geschäfte betreiben, sorgen sich ebenso um die Zukunft des Hauses wie Kunden oder Mitarbeiter. Sie befürchten, dass eine Schließung auch ihr Ende bedeuten könnte. Einen Vorgeschmack auf Goslars Innenstadt ohne Karstadt haben sie alle bereits vor wenigen Tagen erlebt, als Karstadt-Mitarbeiter in einer Protestaktion die Fensterscheiben mit Papier verklebten. "So wird es aussehen, wenn Karstadt schließt", haben sie auf Plakate geschrieben und ihren Kunden damit einen Schrecken eingejagt. Dabei braucht es gar nicht solche Aktionen für einen Ausblick in die Zukunft. Es reicht ein Besuch in der Innenstadt nach Feierabend. Wenn die Touristen wieder in ihre Busse eingestiegen sind und die Ladenbesitzer ihre Geschäfte abgeschlossen haben, wirkt die Altstadt zwar immer noch malerisch, aber auch tot. Ohne Karstadt fehlt dem Weltkulturerbe das Herz. Gegen halb neun am Morgen erst erwacht in Goslars Haupteinkaufsstraße wieder das Leben. Schüler und Angestellte laufen durch ein Fischrestaurant, das direkt zu Karstadt führt. Die Auslagen in den Vitrinen sind frisch, laute Bohrgeräusche dringen aus der Kaiser Passage. Hinter einer Stoffwand wird ein neues Einkaufszentrum gebaut. Hier soll ein H&M einziehen, eine Buchhandlung und ein DM-Markt. Bislang wurde die Entstehung der neuen Passage als ein Luxus gefeiert. Nach der Karstadt-Krise ist die Kaiser Passage nun der einzige Hoffnungsschimmer für Goslar. Wenn Karstadt in Goslar um neun Uhr morgens seine Türen öffnet, herrscht in diesen Tagen eine widersprüchliche Stimmung. Gedrückt, aber auch optimistisch fühlen sich einige der insgesamt zweihundert Mitarbeiter. So richtig will kaum einer glauben, dass das Haus in Goslar geschlossen wird. Mit Sätzen wie "Wir sind das einzige Kaufhaus in einem großen Umkreis" oder "Wir schreiben schwarze Zahlen" beruhigen sie sich gegenseitig und ihre Kunden. "Wir sind weiterhin für Sie da", steht auf Plakaten im Schaufenster. Und "Danke für Ihre Unterstützung". 17 500 Unterschriften wurden bisher für den Erhalt des Hauses in Goslar abgegeben. Das macht den Mitarbeitern Hoffnung. Viele von ihnen arbeiten seit Jahrzehnten in dem Haus. Wo sie hinsollen, wenn Karstadt schließt, wissen sie ebenso wenig wie ihre Kunden. Die könnten auch nach Braunschweig fahren. Doch Rentner wie Kurt Höhler scheuen oft die tägliche Autofahrt über die knapp fünfzig Kilometer. Wenn Karstadt in Goslar schließt, dann gibt es für Höhler nur eine Option: "Ich ziehe fort." Bis dahin aber will er weiter seine Runde drehen. Und jeden Karstadt-Tag in Goslar genießen. --- "Wenn sie den Laden hier dicht machen, schlage ich alles kaputt." Kurt Höhler, Stammkunde ---"Wir sind weiterhin für Sie da." Plakat im Schaufenster der Karstadt-Filiale in Goslar